Vom Lebenstraum Weltpriester zu werden

6. Mai 2017 / Tagespost
von Regina Einig

Frankreichs vielversprechendstes Priesterseminar: Die Gemeinschaft St. Martin bildet im westfranzösischen Évron profilierte Seelsorger aus. Von Regina Einig
Wer in Frankreich ein geistliches Zentrum in ländlicher Umgebung sucht, kommt rasch in die idyllische Kleinstadt Évron. Seit drei Jahren hat die Gemeinschaft St. Martin dort ihr Domizil im ehemaligen Kloster der Schwestern der Nächstenliebe Unserer Lieben Frau von Évron eingerichtet. Der Kongregation fehlte der Nachwuchs, so dass die einstige Benediktinerabtei fast leer stand. Die wenigen alten Schwestern leben heute in einem Nebengebäude. In der von einem gepflegten Garten umgebenen Klosteranlage herrscht nun wieder Leben: Junge Männer aus fünf Nationen bereiten sich hier auf das Priestertum vor. Was deutschsprachige Katholiken mit Stift Heiligenkreuz verbinden, bedeutet die Gemeinschaft St. Martin den französischen Gläubigen: eine junge Gemeinschaft mit klarem priesterlichen Profil und starker Ausstrahlung. Hundert Seminaristen zählt die Gemeinschaft derzeit, davon arbeiten dreißig im Praktischen Jahr in einer Pfarrei mit. Im Unterschied zu den Zisterziensern im Wienerwald sind die Mitglieder der Gemeinschaft St. Martin aber Weltpriester und werden für die Pfarrseelsorge ausgebildet und ausgesandt.Das größte französische Seminar besticht durch eine romtreue kirchliche Ausrichtung und heitere Atmosphäre. Mit großer Selbstverständlichkeit tragen Diakone und Priester Soutane und gehen offen und liebenswürdig auf die Menschen zu. Viele Seminaristen stammen aus traditionellen katholischen und kinderreichen Familien: Im Durchschnitt hat jeder Priesteramtskandidat fünf Geschwister. Doch einige junge Männer sind ihren Glaubensweg auch ohne praktizierende Eltern gegangen. Der Stil des Hauses ist gediegen-klösterlich: Porträts priesterlicher Vorbilder sind an den Wänden des Refektoriums zu sehen: der heilige Johannes Paul II., der selige Johannes XXIII., der Pfarrer von Ars und Don Bosco, aber auch Heilige der tridentinischen Priestererneuerung: Ignatius von Loyola, Karl Borromäus, Vinzenz von Paul sowie Franz von Sales. In den ersten drei Jahren verzichten die Seminaristen auf private Internetnutzung und stellen Studium und Gebet in den Mittelpunkt. Ein geistliches Leben aufzubauen und Zeit zur Lektüre ist das Ziel. Im Advent und in der Fastenzeit empfangen sie keine Besucher. In den Sommerferien und nach Weihnachten können die Seminaristen ihre Familien besuchen. Auch Besuche der Eltern in Évron sind in begrenztem Umfang möglich.

Ein Jahr dauert das Propädeutikum, zwei Jahre umfasst der erste Studienabschnitt. Das vierte Jahr verbringen die Kandidaten in Pfarreien, dann folgen drei Jahre Theologiestudium sowie ein Jahr als Diakonat in der Gemeinde. Das Priesterseminar ist an die Päpstliche Lateranuniversität angeschlossen. Die Mehrzahl der Dozenten sind Mitglieder der Gemeinschaft. Ein Benediktiner aus Solesmes lehrt Patrologie, auch Laien unterrichten. Nach dem Diakonat legen die Seminaristen ihre Prüfungen bei einem Professorenkollegium ab: ein Professor von der Lateranuniversität und drei Professoren von der Kommunität. Ein Akzent der theologischen Ausbildung liegt auf der „thomistischen Option“, erklärt Regens Don Louis-Hervé. „Der heilige Thomas von Aquin bleibt der Meister, wie das Zweite Vatikanische Konzil erklärt“, unterstreicht er im Gespräch mit dieser Zeitung. In Évron wird Wert darauf gelegt, dass die Theologie den Wahrheitsanspruch nicht ausblendet und die Seminaristen eine Gesamtschau gewinnen, statt sich lediglich fragmentarisches Spezialwissen anzueignen.

Ein Besuch in der Eschatologievorlesung von Don Paul Préaux, dem Generalmoderator der Gemeinschaft, vermittelt, wie in Évron Theologie betrieben wird. Konzentriert verfolgen gut dreißig Seminaristen, wie Don Paul die Auferstehung als historisches und metahistorisches Ereignis erläutert: Christus, der wahre Mensch und Gott, übersteige die rein historische Ebene, unterstreicht er. Neben dem Neuen Testament verweist er auf Kirchenvätertexte, Benedikt XVI. und Veritatis splendor. Mancher Seminarist, der zuvor an der Uni Theologie studiert hat, erlebt bei der Gemeinschaft St. Martin zum ersten Mal, dass Konzilstexte und Dokumente des kirchlichen Lehramts komplett gelesen werden. Und nicht nur die Seminaristen profitieren von der Vorlesung: Die Vorlesungen können per Videoschaltung aufgezeichnet beziehungsweise in verschiedene Klausurklöster übertragen werden.

Neben der benediktinisch geprägten Liturgie und dem Gemeinschaftsleben zieht Kandidaten vor allem die ganzheitliche Ausbildung an. Sie berücksichtigt in ausgewogener Form Intellekt, Spiritualität und Menschlichkeit. Wer eine wissenschaftliche Begabung hat, wird nach der Priesterweihe zur Promotion freigestellt und kann später lehren. Die meisten Priester der Gemeinschaft St. Martin übernehmen aber Seelsorgeaufgaben.

Das Seminar ist in Frankreich gut vernetzt. Man beteiligt sich beispielsweise an den Treffen der Seminare der westfranzösischen Bistümer. Während einer Pilgerfahrt nach Fatima trafen sich die Seminaristen mit Seminaristen aus der portugiesischen Diözese Porto. Don Louis-Hervé würde die Kontakte in den deutschsprachigen Raum gern ausbauen, denn mittlerweile hat die Gemeinschaft auch Priester und Kandidaten aus Deutschland und Österreich. „Sie wären nirgendwo eingetreten, wenn sie die Gemeinschaft St. Martin nicht kennengelernt hätten“, ist sich Don Louis-Hervé sicher.

Die von Kardinal Pierre de Bérulle (1575–1629) begründete Französische Schule der Spiritualität dient den Ausbildern als Vorbild. Sie entstand nach dem Konzil von Trient als Modell der Priesterausbildung und verwandelte sich dem Ordensleben an. Als geistliches Zentrum diente das Priesterseminar Saint Sulpice in Paris. Askese und Gebet dieser Schule übernahmen Elemente der Spiritualität des Karmel und des Jesuitenordens – mit dem Ziel, ein intensives geistliches Leben mit apostolischem Einsatz zu verbinden. Darüber hinaus spielt auch die Lehrtradition der Dominikaner bei der Gemeinschaft St. Martin eine gewichtige Rolle.

In diesem Jahr werden drei Kandidaten – ein Österreicher, ein Deutscher und ein Franzose – zu Priestern geweiht. „Es geht uns nicht darum, anderen Seminaren den Platz streitig zu machen, sondern der Krise des Priestertums und einer eher funktionalen Sicht des priesterlichen Dienstes etwas entgegenzusetzen“, erklärt der Regens. Eine Säule der Ausbildung ist die geistliche Begleitung. Alle vierzehn Tage trifft sich jeder Seminarist mit seinem geistlichen Begleiter, alle sechs Wochen spricht der Regens mit den Kandidaten. Und auch nach der Priesterweihe spielt die geistliche Begleitung eine wichtige Rolle, um Erfolge und Misserfolge einzuordnen, die eigenen Schwächen und Stärken zu handhaben und das innere Leben trotz der täglichen Anforderungen zu pflegen. Der Regens vergleicht die Startphase der Neugeweihten mit einer jungen Ehe: „In den ersten vier bis fünf Jahren werden die Fundamente gelegt, die ein Leben lang tragen.“

Als Ausbilder macht er sich über die Schwierigkeiten, das Priestertum heute zu leben, keine Illusionen. Allein der Druck, ständig erreichbar sein zu müssen, erhöhe das Risiko eines Burnout. Die Gefahr für Priester sieht Don Louis-Hervé heute in zwei Extremen: zum einen in einem Seelsorgetyp ohne klares priesterliches Profil. Dieser Typus habe häufig ein weites Herz, achte aber nicht auf die Liturgie und die Lehre. Das umgekehrte Beispiel sei unter den jungen Priestern anzutreffen, die genau auf Liturgie und Doktrin achten, dahinter aber menschliche Unreife verstecken. „Das lässt sich auch bei hochintelligenten Kandidaten beobachten.“ Die Krise des Priestertums hängt aus Sicht des Regens eng mit der Krise des Ordenslebens zusammen, „die auf uns Priester mit voller Härte zurückfällt“. Es gebe in Frankreich Ansätze für eine Erneuerung des Ordenslebens – etwa bei den Benediktinern – und diese Erfahrungen kommen der Priesterausbildung zugute. „Sie erinnern uns an den radikalen Anspruch des Evangeliums.“

Von diesem Anspruch lassen sich die Mitglieder der Gemeinschaft Sankt Martin nicht ablenken. Keine Spur von Gründerkult ist in Évron festzustellen. Abbé Jean-François Guérin (1929–2005), ein französischer Geistlicher, wirkte in Tours und Paris, ehe er 1976 mit Unterstützung des italienischen Kardinals Giuseppe Siri die Gemeinschaft als fromme Vereinigung diözesanen Rechts im italienischen Voltri ins Leben rief. „Ein echter Priester“, fasst Don Hervé das Vorbild Abbé Guérins zusammen. Seine letzte Ruhe hat Abbé Guerin in der Nähe von Tours gefunden, die Gemeinschaft strebt keinen Seligsprechungsprozess an.

Das Gemeinschaftsleben ist ein Schmelztiegel, wo man sich gegenseitig hilft und aneinander reibt, meint Don Louis-Hervé. Vor allem aber miteinander betet: Am frühen Abend füllt sich das Chorgestühl in der Seminarkapelle mit Seminaristen und Gästen. Mit der lateinischen Vesper und der Abendmesse klingt der Tag aus. Gregorianik wird großgeschrieben, einzelne Gesänge wie der Psalm vor dem Alleluja und das Marienlob singt die Schola auf Französisch. Im Gang erinnert eine Tafel an die Maximen des seligen Antoine Chevrier, den Lyoner Gründer der Priestergemeinschaft Prado. „Der Priester gibt alles, er ist ein Gekreuzigter und er verzehrt sich.“

Constantin von Jagwitz, einer der deutschen Priesteramtskandidaten, empfindet die Atmosphäre in Évron und die Gemeinschaft als große Hilfe. Auf das geistliche Leben, das Studium und die Berufungsklärung könne er sich in Évron besser konzentrieren als an der Uni. Der strukturierte Tagesablauf und das intensive Gemeinschaftsleben helfen, eine Lebensdisziplin ohne Individualismus zu erlernen. Gerade das familiäre Verhältnis zu den Oberen schätzt der 22-Jährige, der vor seinem Seminareintritt für die Rubrik „Junger Glaube“ dieser Zeitung geschrieben hat. Die Seminaristen sind in Gruppen von acht bis zwölf Teilnehmern zusammengefasst. Sie sitzen gemeinsam am Tisch, halten gemeinsam geistliche Lesung, helfen sich gegenseitig. Nach drei Jahren Unterricht im Seminar von Évron folgt das erste Praxisjahr in einer Pfarrei. Für viele Priesteramtskandidaten wird dieses Jahr noch einmal zu einer Zäsur ihrer Berufungsklärung.

Matthäus Trauttmansdorff findet in der Gemeinschaft Sankt Martin Elemente wieder, die den gebürtigen Österreicher schon von Kind auf im Wiener Oratorium St. Rochus und im Stift Heiligenkreuz geprägt haben. Im Gegensatz zur stabilitas loci dieser Gemeinschaften zog ihn aber besonders die Mobilität der Gemeinschaft Sankt Martin an.“ Der 30-Jährige, der im Juni zum Diakon geweiht wird, strahlt im Gespräch den Humor aus, der das Seminarleben prägt. Etwa, wenn Don Louis-Hervé mit Wortwitz am Samstag während der Seminarversammlung die brüderliche Ermahnung vornimmt. In seine von den Seminaristen schmunzelnd zur Kenntnis genommene Ansprache flicht er kleine Merksätze wie kleine Leuchtkugeln ein: etwa die Mahnung, Neugier und Geschwätzigkeit zu meiden, damit die Gläubigen ihnen später als Beichtväter vertrauen können.

Regelmäßig bietet die Gemeinschaft Einkehrtage für junge Männer an, die ihre Berufung klären wollen. Auch Jugendwallfahrten, das Projekt „Lernen für das Abitur“ und die hochprofessionell gestaltete Homepage bieten Gelegenheit, die Gemeinschaft kennenzulernen, deren Leitmotiv zeitlos aktuell ist: den Menschen zu dienen wie einst Sankt Martin.

Ich bin überall Priester

Ein Gespräch mit Don Paul Préaux, dem Generalmoderator der Gemeinschaft St. Martin.
von Regina Einig
6. Mai 2017 / Tagespost

Seit 2010 leitet Don Paul Préaux als Generalmoderator die Gemeinschaft St. Martin in Frankreich, eine Gemeinschaft päpstlichen Rechts. Die Mitglieder sind Weltpriester, die ihre missionarische Berufung in kleinen Gemeinschaften leben. Als Generalmoderator wählbar sind Priester der Gemeinschaft, die seit mehr als zehn Jahren Priester und seit mehr als fünf Jahren Mitglieder der Gemeinschaft sind. Das Mindestalter für diese Aufgabe beträgt 35 Jahre.

Don Paul, wie würden Sie Ihre Aufgabe als Generalmoderator beschreiben? Ich arbeite mit dem Seminarrat zusammen, trage die Verantwortung für die Ausbildung der Kandidaten und lasse diese nach Rücksprache mit dem Gemeinschaftsrat und seinem Assistenten zu den Weihen zu. Wir sind für die Zukunftsperspektiven der Gemeinschaft verantwortlich und wollen das Charisma des Gründers lebendig erhalten. Als Generalmoderator halte ich Kontakt mit den Bischöfen und befasse mich mit Anfragen der Diözesen, die eine Niederlassung der Gemeinschaft in ihrem Bistum wünschen. Der Entscheidungsprozess nimmt einige Zeit in Anspruch. Die Gemeinschaft spricht vorab nicht nur mit dem Bischof, sondern auch mit dem Priester- und dem Pfarrgemeinderat. Die Gemeinschaft soll in der Kirche Einheit stiften, aber nicht spalten. Meine Rolle ist auch die eines Begleiters: Ich bin dafür verantwortlich, dass meine Mitbrüder menschlich und als Priester wachsen. Ich stehe auch ein für die Einheit und den brüderlichen Zusammenhalt der Gemeinschaft.

Wie teilen Sie Ihre Zeit ein? Fünfzig Prozent meiner Zeit verbringe ich außerhalb des Seminars und besuche die Mitbrüder in den Pfarreien, um mir ihre Sorgen und Fragen anzuhören. Im Seminar habe ich einen Lehrauftrag und führe Einzelgespräche mit den Seminaristen, um ihnen zu helfen, ihre Berufung zu klären.

Was bedeutet es, dass die Gemeinschaft dem Vorbild des heiligen Martin verpflichtet ist? Martin war Mönch – und für uns bedeutet das: tief in Christus verwurzelt zu sein und auf diese Weise auf unsere Umgebung auszustrahlen. Nach dem Vorbild Martins gründet unsere Gemeinschaft kleine Niederlassungen als Oasen spirituellen Lebens. Martin als Vorbild zu haben bedeutet auch, ein klares priesterliches Profil und eine starke missionarische Ausrichtung zu haben, sich allen Herausforderungen der Zeit zu stellen. Die Priester der Gemeinschaft St. Martin übernehmen Aufgaben in den Pfarreien und in der Kategorialseelsorge. Manche sind in der Jugendseelsorge tätig, andere in der Wissenschaft. Ich kann mir auch vorstellen, dass Mitbrüder in Zukunft als Gefängnis- oder Krankenhausseelsorger arbeiten.

Wie sieht das Leben der Priester in den Gemeinden aus? In den Pfarreien pflegen die Priester der Gemeinschaft St. Martin gemeinsam das Stundengebet und feiern eine Gemeinschaftsmesse. Auch in der Arbeit soll nicht jeder einfach seiner Wege gehen: Von jeder Niederlassung in einer Pfarrei erwarte ich, dass sie mir zumindest ein gemeinsames Seelsorgeprojekt nennen. Jesus hat seine Jünger zu zweit ausgesandt, weil das Priestertum von Natur aus auf Gemeinschaft ausgerichtet ist.

Wie würden Sie jemandem, der Ihre Gemeinschaft nicht kennt, die Liturgie beschreiben? Die Liturgie der Gemeinschaft ist von der lateinischen Tradition geprägt: Im Seminar wird der gregorianische Choral und Latein als Liturgiesprache gepflegt. Unsere Liturgie ist inklusiv, nicht exklusiv. Für die Landessprache sind wir grundsätzlich offen, wollen aber der lateinischen Tradition ihren gebührenden Platz geben. Der Gründer der Gemeinschaft, Abbé Guérin, war ein französischer Weltpriester, der Benediktineroblate der Abtei Fontgombault war. Bis heute tragen die Priester der Gemeinschaft St. Martin das weiße Chorhemd der Benediktiner.

Junge Gläubige begeistern sich heute wieder für die Tradition der Kirche. Wie bewerten Sie das? In der Begeisterung junger Menschen für die Tradition kann eine Art Faszination für die Vergangenheit liegen, die nicht ungefährlich ist, weil sie am Wesentlichen vorbeigeht. Bei Jugendlichen, die innerlich nicht verwurzelt sind, besteht die Gefahr, einfach zurückzuschauen und aus Angst vor dem schnellen Lauf der Zeit auf die Vergangenheit zu schauen. Doch das reicht nicht. Man darf keine Angst haben, sowohl zu erben als auch an der Zukunft zu bauen. Das gehört beides zusammen. Die Tradition lebt. Man muss sich die Vergangenheit aneignen, um in der Gegenwart zu leben. Wir feiern im Allgemeinen keine tridentische Messe, Ausnahmen für einzelne Mitglieder sind denkbar.

Wo sehen Sie die Gefahren für die Kirche heute? Im Gallikanismus sehe ich eine Gefahr für die Katholiken in Frankreich – sowohl bei Integristen als auch bei Progressisten, die die Kirche neu erfinden wollen. Die Kirche bei uns leidet unter dem Versuch, dass Laien infolge des Priestermangels versuchen, sich ohne Priester zu organisieren. Maß halten ist daher sehr wichtig. Ich empfinde überhaupt keinen Bruch mit der Vergangenheit der Kirche. Die Kraft des Christentums liegt nie im Gegeneinander-Ausspielen, sondern im Verbinden.

Wie würden Sie das Leitmotiv der Priesterausbildung der Gemeinschaft St. Martin beschreiben? Leitmotiv der Ausbildung ist, dass die Kandidaten lernen, die Menschen so zu lieben, wie sie sind. Ein guter Priester ist ein Mann Gottes, der vom Geheimnis Christi durchdrungen ist und sein Leben ganz nach Christus ausrichten will. Wenn er das tut, wird er die Menschen lieben. Der Priester verzichtet auf etwas Großes: Ehe und Familie. Der Sinn dieses Verzichts ist, dass der Priester ein großer Liebender wird. Ich sage den Seminaristen: Wer nicht in Christus und seine Kirche verliebt ist, sollte gleich gehen. Andernfalls richtet er Schaden an. Zum Priestertum gehört auch eine geistliche Armut. Der Priester überlässt Christus den ersten Platz.

Wie finanziert sich die Gemeinschaft? Von Spenden. Daran soll sich auch nichts ändern, falls wir uns zu einer Niederlassung in Deutschland entschließen. Meine Mitbrüder sollen arm bleiben.

Was bedeutet es heute, geistliche Berufe zu fördern? Unsere Priester begleiten viele junge geistliche Berufungen in anderen Gemeinschaften und Klöstern. Wir haben keine Angst, junge Leute auf eine Berufung anzusprechen. Viele Priester wissen heute nicht, wie man junge Leute geistlich begleitet, aber eine Berufung braucht Begleitung. Und das ist die Aufgabe der Priester. „Wenn Du Dich auf Dein eigenes Urteil stützt, schirrst Du einen Esel an“, sagt der heilige Bernhard. Ich selbst treffe mich häufig mit meinem geistlichen Begleiter, einem Mönch von Solesmes. Jeder unserer Priester hat einen geistlichen Begleiter, denn ohne ihn ist ein Priester in Gefahr.

Frankreich erlebt politisch spannende Zeiten. Wieviel öffentliches Engagement halten Sie für vereinbar mit dem Lebensstil eines Priesters?Ich lege Wert darauf, dass Priester ihren Platz kennen. Der Priester repräsentiert die Kirche, der Laie steht als Christ für sich selbst. Daher kann ein Priester nicht einer bestimmten politischen Partei angehören, denn die Kirche und das Evangelium lassen sich nicht auf eine bestimmte Politik reduzieren. Ich kann nicht meine Soutane ausziehen und wie alle anderen zu einer Demo gehen, denn ich bin überall Priester. Priester sollen Laien dabei helfen, sich zu engagieren. Eine Ausnahme ist die Lebensrechtsbewegung. An einer Demonstration für das Leben teilzunehmen ist mit dem Lebensstil des Priesters vereinbar.

Sie haben die „Famille Martinienne“ ins Leben gerufen. Was ist das? Die Martinsfamilie besteht aus Laien, die unsere Priester geistlich und finanziell unterstützen. Man kann assoziiertes Mitglied werden, indem man einer Charta beitritt. Von Anfang an haben Laien, darunter viele Familienangehörige der Seminaristen, die Gemeinschaft St. Martin unterstützt. Neu ist die Institutionalisierung in der „Famille Martinienne“. Laien wirken auch in den verschiedenen Räten mit, beispielsweise im Wirtschaftsrat der Gemeinschaft und unterstützen uns durch Gebetspatenschaften für unsere Mitglieder.